Foto: Jens Tremmel, Marbach
Sibylle Cramer
GEDÄCHTNISKÜNSTLER
Wie alle poetischen Kartographen, Topographen, Landschafter ist Becker ein Gedächtniskünstler. Seine Räume sind Zeiträume. Gedächtnis besteht in seinem Fall aus der Kooperation von Wahrnehmung, Erinnerung und Imagination. Im Schreibakt werden sich überlagernde Gegenwarts- und Erinnerungsbilder geschichtet. Mit dem Bilderstapel entsteht eine chronologische Struktur, entsteht Zeit, entsteht Dauer. Geschichte wird zur räumlichen Konstruktion. Eine Architektur des Gedächtnisses kommt zustande, deren Fundament Landschaften sind, ländliche oder urbane. Ihr Gebäude wird von Buch zu Buch erweitert.
Felder, Ränder, Umgebungen , die ersten Bücher waren Grundsteinlegungen und die Errichtung des Rohbaus. Über Köln und die Kölner Bucht legte sich ein Raster immer vertrauterer Orte, Menschen und Dinge. Urbanes und ländliches Leben, wie sie ineinandergreifen zwischen Hohenzollernbrücke, Campis Espressobar in der Hohen Straße, Breslauer Platz, der Autobahnlandschaft am Rhein, den Forsten im Bergischen Land und seinen vom Strukturwandel rasend erfaßten Dörfern. Eine vorläufige Topographie des Lebens wird ins Raster der Felderkarte eingefügt. Die inneren Korrespondenzen mit der Thüringer Kindheitslandschaft gehören dazu und, in Ränder, die systematische, räumlich existentielle Erkundung der Kategorie Grenze.
Aus den Feldern der Wahrnehmung, aus der Wahrnehmung ihrer Ränder und der Durchdringung ihrer Umgebungen ergibt sich eine Gedächtnislandschaft mit imagines und topoi. Das sind bei den antiken Autoren bestimmte Orte, die im fortschreitenden Erzählwerk zu Schnittpunkten von Raum- und Zeitachsen werden. Becker erweitert das Repertoire um Alltagsgegenstände, in seltenen Fällen auch um Menschen, das Bergische Odenthal, der Mielenforst, der Kirschbaum im Garten, die Scheune, das Kölner Funkhochhaus, vor allem aber die Pappeln und, immer wieder, der Maler Erich Schuchardt. Die topographischen Strukturen entsprechen den Strukturen des Gedächtnisses; der Horizont hier ist austauschbar mit dem Erinnerten.
Ein Bleistiftgebiet, das sich von Buch zu Buch verschiebt, dehnt und komplettiert entlang der Zeitgeschichte und in Korrespondenz mit der Thüringer Kindheitslandschaft, mit der Belgischen Küste, mit New York, England, mit Rom und Berlin, Orte, Länder, die bereist, von der Erinnerung besetzt und entlang der Zeitgeschichte einer Chronik integriert werden. Becker bezeichnet sie als poetisches Journal. Das ist, wie immer in seinem Fall, ein understatement.
(Aus: Sibylle Cramer, Laudatio auf Jürgen Becker, 3.4.1994)